Das Fragment ihrer Seele

6. Dezember 2004
von Patrick Armbruster

Vorwort
Ganz kurz möchte ich hier erwähnen, dass dieses Vorwort geschrieben wird, bevor ich die eigentliche Geschichte schreibe. Dies mag seltsam anmuten, aber es passt in den Fluss, in welchem ich derzeit schwimme, und der Inspiration heisst und aus dem flüssigen Atem einer fremden Muse besteht.
Wenn ich der nun folgenden Geschichte eine Farbe zuordnen müsste - wozu ich mich ja hiermit selber auffordere -, dann wäre diese wohl schwer zu beschreiben, weil es sie in unserer Natur nur selten gibt. Ein von innen heraus leuchtendes, bläuliches Weiss. Etwa so, wie das Weiss der ersten Generation von Macintosh Computern.

Die Abreise
Sie stieg die Stufen der Gangway hinauf und blickte über den Rand des Flugzeugs in den Himmel. Strahlend blau. Die Sonne rechts hinten, den Eindruck von Perfektion also nicht beeinträchtigend. Sie hielt höchstens eine Zehntelssekunde lang inne, jedenfalls in ihrer eigenen Zeitrechnung, aber das reichte, um den nachfolgenden Passagier auf sie prallen zu lassen, seine Hand an ihrem Hintern. Sowohl seine Entschuldigung, welche sich ehrlich anhörte, wie auch sein betretener Gesichtsausdruck, der dies unterstrich, konnten den Augenblick nicht retten - sie seufzte also und betrat das Flugzeug.
Etwas später, als sie auf ihrem Platz sass und die Türen hermetisch verriegelt wurden, hatte sie das Gefühl, dass ein ganz kleiner Teil von ihr, nur ein Fragment ihrer Seele vielleicht, draussen auf dem Flughafen verblieben war.
Und als der Jet nach ein paar weiteren Minuten abhob und die Insel verliess, hatte sie das sichere Gefühl, etwas verloren zu haben. Und gleichzeitig die Gewissheit, dass es sich dabei nicht um ein Stück ihres Gepäcks handelte, denn sie war ohne Gepäck angereist vor drei Tagen. Sowohl ihr Handy als auch ihren Discman hatte sie in ihrer Handtasche. Und obschon sie sich völlig darüber im Klaren war, dass sie diesen Gedankensprung zum Materiellen gar nicht ernst gemeint hatte, öffnete sie noch einmal ihre Handtasche und überprüfte die Anwesenheit des Mobiltelefons und des CD-Players, in welchem sich Phil Collins' letztes Album befand, welches sie nicht mochte, weswegen der CD-Player den ganzen Kurztrip über in der Tasche verbracht hatte, ohne auch nur den geringsten Laut von sich zu geben. Sie hatte die CD am Flughafen zu Anfang ihrer Reise gekauft. Das Handy hatte noch im Zug zum Flughafen den letzten Strich Strom verloren und mit dem letzten Piep den Geist aufgegeben, so dass sie die drei Tage vollständig ohne selbstmitgebrachter Fremdunterhaltung hatte verbringen müssen, worüber sie sich spätestens, nachdem sie sich darüber klar geworden war, warum sie diese Reise überhaupt machte, eigentlich freute.
Sinn der Reise war nämlich gewesen, Abstand vom Alltag zu gewinnen. Die eigene Mitte finden. Zur Ruhe kommen. An einem einsamen Strand auf einem Liegestuhl mit echten Meeresgeräuschen. Und der Gewissheit, dass niemand, den sie kannte, ebenfalls da sein würde, weil nunmal niemand, den sie kannte, im November nach Ibiza reiste.

Der Flug
Sie muss wohl eingenickt sein. Obschon der Flug kaum anderthalb Stunden dauert, wacht sie in einem ruhigen und fast leeren Flugzeug auf, welches sich - da ist sie sich sicher - in der ungefähren Mitte seiner Reise befindet. Sie sieht aus dem Fenster und sieht ein paar wenige Wolken und weit darunter das Meer. Jetzt ist ihr Körper definitiv von der Erde gelöst, denkt sie, und ein Fragment ihrer Seele befindet sich noch auf Ibiza. Sie lächelt bei diesem Gedanken für einen Moment, weil ihr die Idee gefällt, dass die Seele nicht unteilbar sei, sondern aus unzähligen winzigen Teilwesen bestehe, von welchen nun zumindest eines nicht mehr bei ihr sei.
Dann fällt ihr auf, dass diese Idee dann doch etwas beunruhigendes an sich hat, und dass sie sich irgendwie davon ablenken muss. Was ihr wiederum zeigt, dass der Kurztrip seine Wirkung nicht verfehlt hat. Sie hat zu sich selber gefunden. Hat Energie getankt. Hat ihrer eingedämmten Fantasie erlaubt, sich von einer Raupe zurück in einen Schmetterling zu verwandeln, welcher nun langsam beginnt, mit den noch schwachen Flügeln zu schlagen.
Sie lächelt und blickt weiter aus dem Fenster, sieht den Wolken zu, die unter dem Flugzeug vorbeiziehen und stellt sich vor, sie wäre das Flugzeug, welches aus eigener Kraft vorwärts zieht. Sie schliesst kurz die Augen und fühlt sich restlos wohl.

Die Ankunft
Das Flugzeug landet. Der Urlaub ist vorbei. Die Batterie ist voll. Sie ist zurück und wird von einer schwarzen Limousine abgeholt. Sie trägt jetzt wieder ihre zum Standard gehörende Sonnenbrille, und das Lächeln ist aus ihrem Gesicht verschwunden. Ihr graues Deux-Pièces lässt sie gut, wenn auch etwas kühl erscheinen. Das mag sie. Sie ist sich der Bedeutung ihres Urlaubs bewusst.
Der Alltag hinterlässt Spuren. Niemand erledigt Tag für Tag seine Arbeit, ohne dass man müde wird. Und man braucht Kraft in diesem Job. Geistige Frische. Man muss zu jedem Zeitpunkt die psychische Oberhand haben, wenn man aus diesen Arschlöchern herausbekommen will, was sie wirklich wissen. Ihr Name ist Angelika, und sie foltert politische Gefangene.




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