Das Mondmädchen

8. Mai 1996
von Patrick Armbruster
neue Fassung vom 13. November 2003
(die alte Fassung finden Sie in 'SinnLicht')

Sie sass oft im Café und trank still und alleine eine Tasse Kakao. Ich war oft da und beobachtete sie, wie sie ins Leere starrte, manchmal etwas erblickte, was ihre Aufmerksamkeit anzog. Sie lächelte dann meistens kurz entrückt. Ihre Augen hatten einen Glanz, der mir von fremden Welten erzählte.
Manchmal glaubte ich, darin zu erkennen, was in ihr vorging. Aber wahrscheinlich wurde nur meine eigene Phantasie durch ihr seltsames Wesen angeregt.
Die Leute sprachen über sie. Sagten Dinge, die mir nicht gefielen. Dass sie verrückt sei, oder zurückgeblieben. Dass sie auf keinen Fall in unserer realen Welt Bestand haben konnte.
Sie blickte nie jemandem direkt in die Augen, ausser, wenn sie etwas ganz Bestimmtes wollte. Wenn sie die Bedienung nach einem Kakao fragte zum Beispiel. Diese schaute sie dann meist noch eine Sekunde lang an, nachdem sie die Bestellung aufgeschrieben hatte.
Ein Blick dieses Mädchens musste phantastisch sein.

Sie faszinierte mich so sehr, dass ich nachts von ihr zu träumen begann. Sie war das Mondmädchen. In meinen Träumen blickte sie in meine Augen. Und wenn ich nach solchen Träumen morgens erwachte, hatte ich ein seltsames Gefühl von Wärme in mir, konnte ihren Blick aber dennoch nicht beschreiben. Ich erinnerte mich, ihren Blick im Traum gesehen zu haben, aber ich wusste nicht wirklich, wie es gewesen war.
Meine Freunde machten sich über sie lustig, sagten, sie fliege nachts auf einem Besen spazieren. Sie sei eine Hexe.
Zauberin würde wohl besser passen. Ich sagte das auch einmal, aber meine Freunde lachten nur darüber.

Einer meiner Freunde kam am 22. April 1997 zu uns und sagte, dass in dieser Nacht der letzte Vollmond vor Beltane sein würde, und dass die Hexe sicher den Mond anheulen würde. Es sei eine magische Nacht nach Hexenglauben.
Meine Freunde lachten darüber. Sie wollten sie am Abend verfolgen – sehen, was sie tat.
Ich blieb im Café, bis sie kam. Meine Freunde waren längst nach Hause gegangen, um sich Fackeln zu fertigen, mit denen sie dem Mädchen Angst einjagen wollten. Sie wollten so tun, als würden sie sie als Hexe verbrennen.

Ich war in Gedanken, als das Mondmädchen das Café betrat. Sie setzte sich an einen freien Tisch und bestellte wie üblich einen Kakao.
Ich dachte daran, was meine Freunde vorhatten und starrte sie dabei an.
Plötzlich sah sie auf und schaute mir direkt in die Augen. Es war, als schiesse mein Gehirn Photos. Momentaufnahmen wurden in mein Gehirn gebrannt. Ihre Augen, das Wesen, das Erkennen in ihrem Blick – die Dankbarkeit.
Als ich wieder klar denken konnte, hatte sie ihren Kakao getrunken, war aufgestanden und gegangen.
Ich war der Realität so entrückt, wie ich mir den Zustand vorstellte, in dem das Mondmädchen ständig war. Eine andere, zweite Welt war in mir entstanden. Ich liebte dieses Mädchen. Ich hatte zuvor nie geliebt und würde nie ein anderes Mädchen lieben können.

Am Abend traf ich mich mit meinen Freunden vor dem Haus, in dem das Mondmädchen wohnte. Sie machten Witze über sie – und über mich. "Du blickst schon so wie sie!" riefen sie und lachten.
Dann ging es los. Der Vollmond hing über unseren Köpfen. Gross und rund, ein helles, warmes und doch kaltes Licht zur gleichen Zeit. Das Mondmädchen kam aus ihrem Haus und wandte sich nach Norden hin dem Wald zu.
Wir folgten ihr in einigem Abstand, damit sie uns nicht sehen konnte.
Sie ging in den Wald hinein, folgte einem uns unbekannten Weg. Dann lichtete sich der Wald. Eine grosse Wiese tat sich vor uns auf, und wir sahen, wie sie auf die Mitte der Lichtung hinaustrat. Dort entstand Nebel wie aus dem Nichts. Sie trat hinein - und der Nebel verschwand wieder. Sie aber war weg.
Meine Freunde hatten aufgehört zu lachen. Mit offenen Augen und Mündern standen sie da.
Ich lächelte still. Dann trat auch ich auf die Wiese hinaus.

'Warum erzählst du nicht weiter, Papa?' fragte mein Sohn. 'Es ist eine schöne Geschichte! Erzähl bitte weiter, Papa!'
Ich schwieg eine Weile und lächelte. 'Schlaf jetzt, kleiner Mann. Irgendwann wirst du das Ende der Geschichte erfahren. Morgen ist das Fest des Frühlings. Beltane.' Ich deckte ihn zu und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
Seine Mutter öffnete leise die Tür und blinzelte ins Zimmer. Sie blickte in meine Augen. Ich nickte kurz, dachte daran, wie schön ihre Augen noch immer waren. Sie nahm mich bei der Hand und führte mich hinaus in die Vollmondnacht vor Beltane.





dein feedback zum text (direkt an die/den autorIn):
name
e-mail

Leserbrief im Forum schreiben...


zurück zur Übersicht

Geschichten
Augen in der Nacht
Bei der nächsten Kreuzung falsch abbiegen
Bilder von Menschen
Blitzlichter
Cecy
Das Fragment ihrer Seele
Das Mondmädchen
Das verwitterte Haus
Des Nachts am Tage
Die Kunst des Herbert Mandolf
Die Spiegelratte
Dodo und die roten Tanzfinken
Etwas blass
Gegen die Leere
Gestrandet
Gewohnheit
Grün, blau, rot, gelb, lila
Kunst in Bahnen lenken
Kurzzeit
Links mit achtzehn
Niemals ein gesundes Kind
Parallorpheus
Quietschvergnügt
Recht
Schattenpfad01
Schönes Haar
So ein Tag
Symptome
Traumwelt
Weihnachtsgeschichte

Gedichte
Danach
Das geschminkte Schweigen
Hass
Ich
Klammern süsse Kraft
Mein sanftes Herz
Melancholische Verabschiedung
Mich statt Deiner
Mit Dir fort
Schneegeleit
Vanity
Verdrängen
Verschiebung
Wintermut
Zum Abschied

E-Books & Serien
Jetzt alle E-Books gratis unter diesem Link zum fünfjährigen Jubiläum von story.ch!
AbendStreifen, WirrSpiel, Warten auf SinnLicht, SinnLicht, RegenSchein

Die Erstausgabe von SinnLicht kann zum Preis (inkl. Versand) von 27 CHF (19 EUR) auf sinnlicht.com geordert werden.

StadtGeist - Novelle

Mein|Eid - Novelle

bar.theke bei RUHESTÖRUNG
Der Anfang
Episode 002
Episode 003
Episode 004
Episode 005
Episode 006
Episode 007
Episode 008
Episode 009
Episode 010
Episode 011
Episode 012

story.ch mithilfe von google.com ganz einfach durchsuchen...


story.ch Newsletter

E-Mail

... und hier das Archiv der Newsletter zum Ansehen.

(Der story.ch Newsletter kann jederzeit abbestellt werden - mit dem angemeldeten Absender eine E-Mail senden.)


story.ch präsentiert: Mein|Eid, das neueste Büchlein von Patrick Armbruster. Für nur noch 7 Franken!


story.ch ist die Plattform für elektronische Verbreitung literarischer Werke junger AutorInnen. Die Themen reichen von Alltagsgrau, urbanem Leben über Liebe, Leidenschaft, Erotik bis hin zu fantastischen Märchen.

©1997-2009 by Patrick Armbruster & story.ch, die grösste Schweizer Online-Literaturplattform