Des Nachts am Tage

20. Februar 2002
von Patrick Armbruster

Des Nachts am Tage, als ich sterben wollte. Ich nahm mir alles selber übel. Während ich im Dunkeln wandelte, spürte ich, wie das Übel der Gleichgültigkeit mich stärker als je zuvor überkam. Ich wollte eigentlich nicht einmal mehr sterben, jedenfalls nicht aktiv. Aber noch weniger wollte ich leben.

Das sind die besten Voraussetzungen für ein Wunder. Dieser Gedanke liess mich lächeln. Und so lächelte ich, als ich die Böschung hinunter zu den Geleisen stolperte. Alle Stunden kam hier selbst tief in der Nacht ein Zug vorbei. Ich hatte mir ausgerechnet, dass ich selbst dann nichts von meinem Tod spüren würde, wenn der Zug langsamer als üblich über mich fahren würde.

Ich lächelte, als ich auf den Geleisen meine Zigarette anzündete. Viele Selbstmorde hatten hier schon stattgefunden. Jedoch hatte es keiner über die Lokalpresse hinaus geschafft. Und ich war davon überzeugt, dass auch mein eigener keine grossen Wellen schlagen würde. Sonst hätte ich es entweder nicht oder besser getan.

Mein Versuch sollte aber Wellen schlagen. Denn als der Zug mit seiner üblichen Geschwindigkeit heranraste, veränderte sich etwas an der Realität. Ich bemerkte es früh: Der Zug schien langsamer zu werden, obschon das Geräusch sich nicht veränderte. Das Licht, welches zuvor bleich im Schein des Mondes gewesen war, bekam eine bläuliche Qualität. Klarheit überströmte die Szene. Ich hatte meine Brille auf, doch auch mit ihr hatte ich nie so klar jedes Detail festhalten können. Der Zug kam stetig näher, doch die Angst, welche mich für einen kurzen Moment gepackt hatte, als ich sein Geräusch zum ersten Mal wahrgenommen hatte, verliess mich. Klarheit, Ruhe, blaues freundliches Licht.

Da waren keine Stimmen. Nur das Kreischen der Zugbremsen, die niemals reichten, um einen Zug vor einem Suizidalen anzuhalten. Niemals. Auch heute nicht. Der Zug raste einfach durch mich hindurch. Ich hatte mich auf einen Schlag vorbereitet, der härter war als alles, was ich bisher erreicht hatte, doch ich spürte nichts. Dann wandte ich den Kopf und sah den Zug von hinten. Er hielt an, doch das bläuliche Licht verschwand nicht.

Der Moment, welchen ich als Realitätsverfremdung wahrgenommen hatte, blieb stehen. Mit dem Sterben des Geräusches kreischender Bremsen kehrte auch die wörtliche Ruhe ein.

Und seither sitze ich hier. Auf den Geleisen. In bläulichem Licht. Des Nachts am Tage, als ich sterben wollte.




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