Die Spiegelratte

12. September 2002
von Patrick Armbruster

Es war früher Morgen. Der Tümpel wirkte wie ein mit Öl gefülltes Loch, ich hatte das Gefühl, dass ich einen Stein auf seine Oberfläche hätte werfen können, ohne dass er gleich gesunken wäre. Die Sonne selbst war am Horizont noch nicht sichtbar, aber sie spendete indirekt bereits genügend Licht, dass ich mein Spiegelbild sehen konnte. Es war noch dasselbe. Und nicht meines.

Vor fünf Wochen hatte ich das erste Mal die Veränderung in meinem Spiegelbild entdeckt. Damals war sie mehr eine Ahnung gewesen. Etwas an meinem Blick stimmte nicht. Aus dem Spiegel sah mich zwar jemand an, aber es war nicht mein Blick, der mich musterte. Der Blick des Anderen wirkte spöttisch. Als wollte er sagen: Da bin ich also gelandet.

In den Tagen darauf beobachtete ich mein Spiegelbild oft, wie es mich beobachtete. Ich hatte das klare Gefühl, dass in meinem Spiegelbild ein fremder Mann wohnte, ohne dass ich in meinem eigenen Kopf das Gefühl hatte, dass etwas von mir Besitz zu ergreifen versuchte. Das klingt schwer vorstellbar, schwerer jedenfalls, als hätte ich in mir dieselbe Veränderung verspürt. Aber nein: Es war nur das Bild im Spiegel.

Dann begann ich eines Nachts, als ich aus einem wirren Traum aufwachte und mich wieder im Spiegel betrachten wollte, das Wesen als das zu sehen, was es war, anstatt dass es mich aus meinen eigenen Augen anblickte. Es war keine langsame Veränderung. Seit jener Nacht sah ich, wann immer ich mich in einem Spiegel sah, nicht mein eigenes Gesicht, nicht meine eigene Gestalt, sondern einen Mann, der ein wenig grösser und hagerer als ich war. Seine Wangen waren eingefallen, mehr noch als meine. Seine Blick war stechend, er beobachtete mich nicht länger spöttisch, denn er kannte mich mittlerweile. Sein Haar war nicht wie meines blond, sondern eine Mischung aus Braun und Grau. Er war deutlich älter als ich. Dennoch erkannte ich auch eine Ähnlichkeit zu mir, was aber wohl daran lag, dass etwas von mir noch immer im Spiegel zu erkennen war.

Warum ich nun an einem frühen Morgen zu diesem Teich gekommen war, hatte einen einfachen Grund. Ich hatte in den letzten Wochen Ärzte aufgesucht. Zunächst den 'Arzt meines Vertrauens', meinen Hausarzt. Er hatte mein Spiegelbild lange Zeit betrachtet, indem er hinter mir gestanden hatte. Doch hatte er mir nichts weiter zu sagen, als dass ich vielleicht unter Halluzinationen litt. Er empfahl mir, einen Psychologen oder Psychiater aufzusuchen. Ich tat beides. Und suchte danach zwei weitere Ärzte auf. Niemand konnte oder wollte mir weiterhelfen. Die Psychiater wollten mir natürlich Medikamente dagegen verschreiben, aber davon hielt ich nichts, zumal ich nicht annehmen konnte, dass ich an einer Halluzination litt. Ich hatte nämlich das Gefühl, bei bester Gesundheit zu sein. Ich litt auch nicht unter Stresssituationen. Im Gegenteil fühlte sich mein Leben ruhig an. Doch als ich diesen Gedanken vor einem Psychologen formuliert hatte, versuchte der mir einzureden, dass gerade in Situationen der Ruhe Menschen wie ich sich abenteuerliche Geschichten einzureden vermochten. Menschen wie ich! Der Mann kannte mich seit zwanzig Minuten und glaubte mich zu kennen.

Nun, ich suchte dann etwas stärkeres. So ähnlich, wie Menschen, wenn ihre Kopfschmerztabletten nicht wirken, eine stärkere Substanz um Hilfe bitten, versuchte ich es, anstatt weitere Quacksalber aufzusuchen, bei einer Hexe. Nicht bei einer dieser New-Age Schwestern, nein, bei einer alten Voodoo-Zauberin. Ich weiss nicht mehr genau, welcher meiner Bekannten es war, der mich ihr einmal vorgestellt hatte, aber ich hatte mir damals ihre Adresse notiert, weil ich den Gedanken, eine echte Voodoo-Zauberin zu kennen, amüsant fand. Jedenfalls suchte ich sie auf und erzählte ihr meine ganze Geschichte. Und sie brachte mich auf den Teich. "Gehen Sie an einem frühen Morgen an einen Teich - bevor noch die Sonne aufgeht. Sprechen Sie Ihr Spiegelbild an, währen die Sonne aufgeht. Bringen Sie einfach in Erfahrung, was das Spiegelbild Ihnen mitteilen will."

Sie verlangte für diesen Ratschlag hundert Schweizer Franken, weswegen ich gewillt war es zu probieren. Schliesslich werfe ich nicht so viel Geld einfach zum Fenster hinaus.

So sass ich nun an diesem Teich, und während die Sonne aufging, fragte ich mein Spiegelbild, welches mich mit stechendem Blick, braungrauem Haar, eingefallenen Wangen und etwas grösser und hagerer als ich anstarrte, weswegen es mich aufgesucht hatte.

Zu meiner eigenen Überraschung erhielt ich eine einfache, wenn auch im ersten Moment inakzeptable Antwort: "Ich bin Dein Spiegelbild. Du bist nur langsam zu alt, um akzeptieren zu wollen, dass Du alt bist."

Ich habe seither einfach die Spiegel in meiner Wohnung abmontiert, um mich nicht mehr darin ansehen zu müssen.




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