2002-02-24 - Notiz an mich selber: Ausgegraben aus dem Archiv. Noch nicht bearbeitet, diese Geschichte. Das Wort 'vielleicht' kommt mir etwas zu oft drin vor. Korrigieren, Patrick! ;) Eventuell noch mehr Hinweise einbauen. Dem Unheimlichen einen Namen geben? Es etwas mehr sichtbar machen? Unter Umständen den zeitlichen Bruch in der Geschichte interessanter gestalten oder ganz auflösen...
Wenn ich manchmal nach zehn Uhr abends durch die Strassen der Stadt ging, fragte ich mich, ob sich wohl die Geister an die Geisterstunde hielten. Ich führte ein Selbstgespräch - und üblicherweise kam dabei heraus, dass die Geister eine Erfindung der Menschen waren, welche sich einfach vor dem Dunklen fürchteten. So wie ich.
Wenn ich dann mein Haus erreichte, das ein wenig ausserhalb des Stadtkerns lag, war ich froh, das Licht anzünden zu können. Sofort erhellte sich der Flur, von dem aus eine Treppe ins obere Stockwerk und drei Türen in Räume auf dem Erdgeschoss führten.
Das Haus stand - wie eingangs erwähnt - etwas ausserhalb, an der Hauptstrasse. Es trug die Nummer 13. Ich hatte stets gewitzelt, dass ich es wohl deshalb so günstig gekauft hätte. Aber das entsprach nicht der Wahrheit. Ich hatte es von einem Onkel geerbt, der in diesem Haus alt geworden und gestorben war.
Meine Mutter hatte nie viel über ihre Familie erzählt, jedoch wusste ich, dass Onkel Dedrich vier Jahre älter als sie gewesen war, und dass er in dieses Haus zog, nachdem seine Eltern (meine Grosseltern mütterlicherseits) gestorben waren.
In vielen Dingen hatte meine Mutter mich im Unklaren gelassen. Auch nach ihrem Tod vor fünf Jahren erfuhr ich nicht mehr, obwohl (oder weil) ich der einzige Verwandte war, der noch lebte. Mein Vater hatte sich kurz nach meiner Geburt von ihr getrennt, aber ich hatte ihn mit fünfzehn Jahren kennengelernt, und seither traf ich ihn mehrmals im Jahr, wenn ich nach London kam, um mit meinem Verleger zu verhandeln. Mein Vater wusste noch weniger über die Familie meiner Mutter als ich. Sie hatten sich kennengelernt, hatten geheiratet, ein Kind bekommen und sich getrennt.
Ich interessierte mich - vielleicht gerade weil meine eigene Vergangenheit im Dunkeln lag - sehr für Dinge vergangener Zeiten. Vielleicht projezierte ich meinen Wunsch, meine eigene Geschichte zu erfahren, in den Wunsch, anderer Leute Geschichten zu hören und zu erzählen, hinein.
Ich habe darüber oft geschrieben - und dieses Mal möchte ich darauf weitgehend verzichten.
Ich möchte über das Haus schreiben, welches ich am zehnten Januar 1846 bezog. 13, Main Street, Corinyard.
Ich erreichte das kleine Städtchen, welches knapp 40 Minuten (mit der Postkutsche) ausserhalb Londons lag, am Nachmittag jenes Wintertages. Ich reiste mit grossem Gepäck. Zwei Koffer voll frischer Wäsche, eine Reisetasche mit Esswaren und Getränken und eine weitere mit meiner kleinen Reiseschreibmaschine und genügend Papier für drei Monate Arbeit.
In meiner Mappe hatte ich die Papiere, welche mich als Inhaber des Hauses auswiesen, sowie den Schlüssel zum Haus.
Es lag viel Schnee, und das Städtchen erschien mir ausgestorben. Die Menschen hatten sich in ihren Häusern verkrochen, wo sie sich wohl um die Öfen sammelten, um etwas Wärme abzubekommen.
Ich betrat mein Haus, welches ganz von der Winterkälte durchfroren war, und brachte mein Gepäck in die Stube, wo genügend Holz neben dem Ofen lag, so dass ich nach ein paar Stunden einen angenehmen Winterabend in meinem neuen, alten Haus verbringen konnte.
Ich schrieb an jenem Abend drei Gedichte. Eines über das Haus, eines über den Winter und eines über das Städchen Corinyard. Ich hängte die drei Blätter Papier über dem Ofen auf, setzte mich an den Stubentisch und lehnte mich im Stuhl zurück, soweit es ging, ohne dass ich umfiel.
Ich seufzte, streckte mich und betrachtete die beiden Koffer. "In Ordnung," murmelte ich. "Dann räumen wir das Haus doch einmal auf."
Ich fand mich im Haus schnell zurecht. Im Erdgeschoss befanden sich die Stube, eine Küche und ein Badezimmer. Im oberen Stockwerk gab es zwei Schlafzimmer, ein kleines Bad und die Bibliothek. Darüber gab es wohl einen Speicher, jedoch hatte ich keine Lust, mir diesen auch noch anzusehen. Ich richtete mir ein Schlafzimmer her (dasjenige, dessen Fenster zur Hauptstrasse hin lag) und legte mich zu Bett.
Am nächsten Morgen, am 11. Januar 1846, ging ich in die Stadt, um Besorgungen zu machen. Ich brauchte Kaffee, Geschirr (das Geschirr in den Kästen der Küche war zerbrochen) und Unterhaltung.
Obschon man Schriftstellern oft nachsagt, sie wären einsam, ein bisschen verquer und im Allgemeinen nicht sehr umgänglich, zählte ich mich nicht gerne zu jener Spezies. Ich war ein Freund von angeregten Gesprächen, verliebte mich gerne in unmögliche Frauen (unmöglich, weil sie vergeben waren, oder weil sie unmöglich waren) und war nur zum Schreiben gerne allein.
Ich fand Kaffee und Geschirr. Mit diesem neuen Gepäck betrat ich einen der drei Pubs im Zentrum.
Dort traf ich das erste Mal auf Luke, der den Pub führte, auf Mary, seine Gemahlin und auf Angela, die neunzehnjährige Tochter. Sie war ausgesprochen hübsch und unverheiratet. Sie musste - aus irgendeinem Grunde - unmöglich sein. Meine nähere Zukunft war verplant.
Ich stand im hellen Flur meines Hauses, warf einen Blick auf die Treppe, welche ins obere Stockwerk führte, und ging in die Stube, wo ich Angela leise weinen hörte.
Sofort ging ich zu ihr hin, nahm sie in die Arme und küsste ihren Mund. "Was ist denn geschehen?" fragte ich leise.
Angela wischte sich die Tränen aus den Augen. "Ich habe gelesen, was du an der Wand unter dem Zugang zum Speicher aufgehängt hast. Immer wieder. Dennoch konnte ich der Versuchung nicht widerstehen."
Ich seufzte. "Und du bist hinaufgestiegen."
Sie nickte und schluchzte.
"Ich habe es ja auch nicht gekonnt." sagte ich leise. "In der Bibliothek meines Onkels habe ich seine Warnung gefunden. Und dennoch bin ich einmal hinaufgestiegen. Ich habe es auch gesehen, Angela."
Sie blickte mich aus ihren grossen, traurigen Augen an, die ich so sehr liebte, und fragte: "Und nun?"
Ich seufzte wieder. "Ich weiss es nicht. Ich werde eine neue Warnung schreiben. Vielleicht kann ich verhindern, dass jemals wieder jemand dort hinaufgeht."
Sie nickte. "Du bist Schriftsteller, du kannst das."
Ich lächelte. "Das dachte ich auch, bevor du hinaufgestiegen bist."
Es hatte sich herausgestellt, dass Angela verlobt gewesen war. Ihr Verlobter war nach London gegangen mit dem Plan, ein Jahr später mit Geld zurückzukehren. Ich hatte - nachdem sie mir den Namen genannt hatte - die traurige Aufgabe, ihr zu erzählen, dass ihr Verlobter durchaus Geld gemacht hatte, damit jedoch nach Amerika aufgebrochen war. Mit seiner Gemahlin.
Angela hatte geweint. Drei Wochen hatte sie mit niemandem geredet. Und dann war ich da, als sie getröstet werden wollte.
Sie verliebte sich bald in mich, auch wenn ich heute nicht weiss, ob es vielleicht allein daran lag, weil ich hierhergezogen war, um hier zu leben, so dass die Chancen vielleicht (im Vergleich zu allen Anderen ) besser standen, dass ich nicht wieder wegziehen würde.
Noch bevor wir heirateten (im Mai desselben Jahres), stieg ich in den Speicher meines Hauses hinauf, woraufhin ich die Warnung in Form eines Gedichtes formulierte.
Es lautete folgendermassen:
"Wer jemals auf den Speicher tritt,
Um Neugier zu befrieden,
Wird sehen, was da oben litt,
Und leiden dann hienieden."
Ich hoffte, dass diese wenigen Worte genügen würden, um eventuelle Abenteurer davon abzuhalten, ihre Neugier zu befriedigen. Jedoch, so scheint mir heute, reichte es nicht.
Heute beende ich diese Geschichte über mein Haus. Ich bin mir nicht sicher, ob die Andeutungen darüber, was sich auf dem Speicher meines Hauses an der Main Street 13 Carolinyard befindet, als Warnung genügen, doch mehr kann und will ich darüber nicht erzählen.
Wer dies liest und darüber nachdenkt, ob es sich lohnt zu erfahren, was sich dort befindet, sollte bedenken, dass ich mich im Dunkeln fürchte (seitdem ich den Speicher betreten habe), dass Angela geweint hat (wie auch ich), und dass wir beide zwar verheiratet waren, niemals aber ein gesundes Kind zur Welt brachten.