Schönes Haar

August/September 2003
von Patrick Armbruster

(Diese Weihnachtsgeschichte wurde im Jahr 2003 für ein Shampoo von 'Robert & Josiane' namens 'Schönes Haar' verwendet. Robert & Josiane stellen poetische Kosmetikprodukte her, welche in verschiedenen Boutiquen in der ganzen Schweiz vertrieben werden.)

Mit dem Dezember war der erste Schnee gekommen. Nach grauen Wochen voller Regen und Schlamm war die trockene, weisse Kälte eine Wohltat. Das erste Mal seit langer Zeit schlief Karima drei Tage vor Heiligabend die ganze Nacht durch. Weihnachten, dachte sie bei sich. Doch der Gedanke daran vermochte ihr nicht das Glück und die Wärme wie in früheren Jahren zu bringen. In diesem Jahr waren nämlich einige Dinge geschehen, welche Karima traurig machten.
Im Frühling war ihre Mutter gestorben. "Frühling ist doch keine Zeit um zu sterben", hatte ihr Vater an der Beerdigung gesagt. Karima hatte gedacht: "Vor allem nicht, wenn ich gerade elf Jahre alt geworden bin."
Im Sommer, als Vater gelernt hatte, die Wäsche richtig zu machen und ein wenig zu kochen, hatte Karima einen Unfall im Schwimmbad erlitten, bei dem sie sich den Knöchel gebrochen hatte. Sechs Wochen lang hatte sie an Krücken gehen müssen. Der ganze Sommer war an ihr vorüber gegangen. Meist blieben ihre Freundinnen nur kurz zu Besuch, um den Rest des Tages im Schwimmbad, im Wald oder sonstwo verbringen zu können. Karima wurde durch ihre Unfähigkeit zu spielen zu einer noch einsameren Person.
Im Herbst, als Karima endlich wieder mit den anderen im Freien spielen durfte, geschah ein weiteres Unglück. Am Waldrand hatte sie mit ein paar Mädchen und Jungen ein Feuer gemacht um zu grillieren. Als sie das Feuer löschten, entzündete sich ihr langes blondes Haar, und ihr Kopf sah aus wie eine Fackel. Zunächst lachten die anderen Kinder, weil es so lustig aussah, doch dann kreischten sie alle durcheinander. Als endlich jemand mit Eistee den brennenden Kopf von Karima löschte, war es lange zu spät: Ihr blonder Haarschopf war kleinen, grauschwarzen Löckchen gewichen.
Karima ging ins Badezimmer, wusch sich das Gesicht und betrachtete sich im Spiegel. "Ich bin traurig", murmelte sie und betrachtete dabei ihre Frisur. Das war nicht das Haar, das sie einst gehabt hatte. Die langen blonden Strähnen waren kurzen bräunlichen gewichen, welche in alle Richtungen von ihrem Kopf abstanden, nur nicht in die, in welche Karima sie zu kämmen versuchte. Sie seufzte, ging in die Küche und setzte sich ihrem Vater gegenüber an den Tisch. Während sie Brot mit Butter und Himbeermarmelade ass, sagte ihr Vater, ohne von der Zeitung aufzublicken: "Tu' noch was wegen deiner Haare."

Karima hatte das Frühstück mit einem grossen Kloss im Hals heruntergedrückt. Langsamer als sonst ging sie den Weg zur Schule. Sie musste zwei Quartiere durchqueren, erreichte das Schulhaus aber dennoch zehn Minuten zu früh.
Der Pausenplatz war leer und ruhig. Der Brunnen hatte gestern noch geplätschert, heute war er eingefroren. Karima trat an den Brunnen, um ihr Spiegelbild auf der glatten Fläche Eis zu betrachten. Doch da war nicht ihr Gesicht, sondern das freundlich lächelnde Gesicht einer Frau mit langen blonden Locken, wie Karima sie früher selbst gehabt hatte. Karima erschrak. Die Frau legte ihren Zeigefinger vor die Lippen. Karima blieb still. Dann sagte die Frau: "Es ist bald Weihnachten. Alles wird gut." Dann verschwand ihr Gesicht. Zurück blieb das von Karima. Und wieder wurde sie daran erinnert, wie schrecklich ihr Haar aussah.

Am nächsten Tag begleitete Karima ihre Freundinnen ins Einkaufszentrum. Überall roch es nach Weihnachten. Während die anderen sich um Schminke kümmerten, ging Karima in die Boutique und setzte sich auf eine Bank. Hier hatte sie früher oft gesessen, während ihre Mutter Kleider anprobiert hatte. Karima wurde traurig, als sie daran denken musste. Sie blickte in einen der grossen Spiegel, die vom Boden bis in den Himmel reichten, und vor welchen sich ihre Mutter jeweils gedreht hatte, um sich von allen Seiten betrachten zu können. Wieder sah Karima die fremde Frau aus dem gefrorenen Brunnen. Sie lächelte und sagte: "Weine nicht, Karima. Glaube mir, es wird alles gut an Weihnachten." Karima nickte. Doch so recht wollte sie es nicht glauben.

Am Abend vor Heiligabend ging Karima früh zu Bett. Sie konnte lange nicht schlafen, weil ihr die Frau nicht aus dem Kopf ging. Die hatte leicht reden. Sie war glücklich und schön.
Gegen den Morgen begegnete Karima der Frau in ihrem Traum. Sie standen einander gegenüber. Zwischen ihnen brannte eine grosse Kerze. Karima betrachtete bewundernd die fremde Frau, wie sie lächelte. Die Frau umgriff mit beiden Händen die Kerze und nickte Karima zu, es ihr gleich zu tun. Karima legte ihre Hände auf diejenigen der Frau.
Die Kerze brannte sofort heller und zerfloss. Sie verschmolz Karima mit der blonden Frau. Und als Karima aus dem Traum erwachte, wusste sie, dass etwas geschehen war.

Es war der Morgen vor Weihnachten. Die Sonne schien. Aus den Kaminen der Häuser stieg Rauch auf, und der Schnee lag weich auf allen Dächern. Weihnachten, dachte sie bei sich. Der Gedanke daran erfüllte Karima das erste Mal seit bald einem Jahr mit Vorfreude.
Sie ging ins Badezimmer, wusch sich das Gesicht und betrachtete sich im Spiegel. Verwundert sah sie ihr eigenes Lächeln. Und beinahe erschrocken betrachtete sie ihre langen, blonden Locken. Doch sie wusste, was geschehen war. Sie nahm den Kamm und begann, ihr schönes Haar zu kämmen. Danach ging sie in die Küche und setzte sich ihrem Vater gegenüber an den Tisch. "Tu' noch was wegen..." Er stockte. "Deine Haare!" rief er aus. Karima nickte lächelnd.




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