Menschen glauben, dass manche Dinge leben. Andere Menschen glauben es nicht. Ich versuche nicht, ein Urteil darüber zu fällen, aber ich kann von der Stadt erzählen, in der ich lebe.
Die Winterthurer Altstadt schlummert in den Stunden nach Mitternacht während der Woche. Sie zittert vor Aufregung, wenn das Leben in lauen Frühlingsnächten in ihre Strassen zurückkehrt. Sie lauert selbst an kalten Winterabenden, wenn dunkle Gestalten in ihren Gassen lauern. Sie kümmert sich um ihre Bewohner, zeigt sich eigenartig verändert, wenn schlimme Dinge in ihr geschehen. Obschon sie oft einen grauen Eindruck macht, sind nur ganz wenige Häuser wirklich grau, die Mehrheit der Fassaden ist in Pastelltönen gehalten.
An einem Spätfrühlingsmorgen kam ich, als die ersten Menschen die Häuser verliessen und die Bäckereien bereits den Duft frisch gebackener Hörnchen und Brötchen in den Atem der Stadt entliessen, nach Hause. Ich war übermüdet, da ich bis dahin gearbeitet hatte, aber dennoch - oder deswegen - blieb ich noch im Tor stehen und schnupperte den Backwarenatem im Angesicht der in der Morgensonne glänzenden Stadt. Ich streckte meine beiden Arme aus, liess die Finger langsam durch die noch kühle Luft gleiten, während ich langsam, Schritt für Schritt, die Steinberggasse hinunter zum ersten Brunnen ging. Ich ging schnell die Stufen hinauf, die zu meiner Wohnung führen, um die Fenster meiner Stube alle zu öffnen und das Licht und den Duft herein zu lassen. Vogelgetzwitscher sang vom Sommer, der da kam.
Die schönsten Stunden im Sommer in der Steinberggasse liegen zwischen fünf und sieben Uhr, wenn junge Leute sich sommerlich gekleidet aneinander liegend wärmen, wissend dass ein Schnupfen und die Liebe Folgen jener Nacht sein werden. Zärtlich lächelnd, lieblich frierend, wartend auf den neuen Tag, den sie wohl verschlafen werden. Die Stadt lässt leise die vier Brunnen plätschern. Sie würde lächeln, wenn sie könnte.
Und auf ihre Weise tut sie alles, um den Eindruck zu erwecken, dass sie lebe. Manche Menschen glauben, dass Dinge leben. Andere Menschen nicht. Ich versuche nicht, ein Urteil darüber zu fällen, aber ich habe von der Stadt erzählt, in der ich lebe.