Weihnachtsgeschichte

18. Dezember 2002
von Patrick Armbruster

Susan mochte die Stadt. Nicht wegen der Abwesenheit der Natur, sondern wegen der Anwesenheit des Lebens an sich. Dass es dennoch anwesend war, überraschte sie immer wieder. Sie mochte die Momente, in welchen sich ihr die Natur mitten in der Stadt offenbarte.

An einem Freitagmorgen im Dezember überquerte sie den Graben, als sie von der Badgasse zur Obergasse spazierte. Die Stadt selbst erschien ihr an diesem Morgen kälter als noch in den Tagen zuvor, als es geregnet hatte. Sie hauchte Gespenster in die Luft und blickte ihnen nach, während sie am Poco Loco vorbei ging, grüsste Kari, der ihr vom Cappuccino her zuwinkte und bog dann in die Steinberggasse ein, wo sie vor dem obersten Brunnen stehen blieb, der im Winter von einer Holzplatte bedeckt war. Darauf schlief eine grosse weisse Katze, und zwischen ihren Beinen lagen zwei kleinere Katzen, die wohl ihre Kinder waren. Die Herbstkätzchen waren zu alt, um noch so sehr von ihrer Mutter abhängig zu sein, aber wahrscheinlich genossen sie einfach die Wärme, welche der grössere Körper der Mutter ihnen bot. Eines der Kätzchen war schwarz, das andere grau getigert. Auch sie schliefen ruhig, als Susan sich ihnen näherte und sie betrachtete. Sie zog ihre Handschuhe aus und streichelte die Mutter. Als diese ihren Kopf hob und schnurrend die Augen nur halb öffnete, begann Susan mit ruhiger und dunkler Stimme zu reden, während sie ihrerseits die Augen halb schloss. Dann setzte sie sich auf den Rand der Brunnenabdeckung, zog den Mantel aus und legte ihn neben die Katzen, die sich sofort in seine Falten kuschelten. Susan legte sich nun selbst ganz auf die Holzplatte und krümmte sich um den Mantel, in dessen Mitte die Katzen lagen, und nach einer Weile schliefen alle vier und träumten wohl von Weihnachtsgebäck und heissem Tee - oder dem felinen Äquivalent dazu.

Daniel sass im Chez Tonton und trank Pfefferminztee. Vor ihm auf dem Tisch lagen zwei Pakete. Weihnachtsgebäck für seine Schwester und ein Buch für seine Mutter. Er hoffte, dass die Geschenke den beiden zusagen würden. Im letzten Jahr hatte er ihnen nichts schenken können, was er bedauert hatte, deswegen wollte er ihnen in diesem Jahr nur Dinge schenken, welche ihnen auch wirklich gefielen. Natürlich, nur der Gedanke zählte, aber den hatte er auch im vergangenen Jahr gehabt, durch seine Reise durch Schottland hatte er aber schlicht die Möglichkeit nicht gehabt, ihn in die Tat umzusetzen. Das Gebäck für die Schwester stammte aus einem Laden im Zürcher Oberland, in welchem sie in ihrer Kindheit stets zu Weihnachten eingekauft hatten. Er hoffte, dass seine Schwester das Gebäck eben so sehr vermisste, wie er die sorglosen Tage zu jener Zeit. Das Buch für die Mutter erzählte die Geschichte einer allein erziehenden Mutter im 18. Jahrhundert. Irgendwie sollte der Vergleich zu ihrem eigenen Leben dafür sorgen, dass sie sich über die besseren Umstände heutzutage freuen konnte. Ausserdem hatte ihre eigene kleine Familie die schönen Dinge, welche in der Geschichte erzählt wurden, in ähnlicher Form ebenfalls erlebt, so dass Daniel hoffte, dass am Ende des Buches seine Mutter vor allem daran erinnert würde. Freude zu bereiten, das hoffte er mit seinen Geschenken zu erreichen.

Susan erwachte, als die weisse Katzenmutter sich regte. Etwas veränderte sich. Die Katze spürte das mehr als Susan, aber in ihr war ein Gedanke erwacht. Sie musste etwas tun. Freude bereiten. Mit einem Geschenk. Soviel wusste sie. Sie erhob sich, streichelte die drei Katzen und nahm den Mantel wieder an sich. Dann ging sie auf der Steinberggasse ein wenig umher. Doch noch war der Moment nicht gekommen.

Daniel bezahlte seinen Tee. Er fühlte sich gut wegen der Dinge, die er tun würde. Und gleichzeitig vermisste er das Gefühl, dass ihm selbst gute Dinge getan würden. Er hoffte, dass Gutes zu tun Gutes hervorrufen würde, aber bislang fehlte ihm die Bestätigung dafür.

Schneeflocken begannen zu fallen. Susan schloss die Augen und wusste, dass der Moment nun gekommen war. Einen Kuss, einen einzelnen Kuss als Geschenk, flüsterten ihre Gedanken.

Daniel trat auf die Steinberggasse und freute sich über die leichten Schneeflocken. Dann blickte er in das Gesicht einer jungen Frau, die gerade ihre Augen öffnete. Sie begann zu lächeln. Und er ahnte, dass er seine Bestätigung erhielte.




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