Die Welt steht still

von Etrit Hasler

Die Welt steht still
oder: von den schwierigkeiten, in einem hyperflexiblen arbeitsmarkt seine nische zu finden
oder auch: wenn metzger zu sehr lieben


gib mir fleisch
gib mir gib mir triefendes, heisses fleisch
gib mir pulsierendes, nacktes zuckendes fleisch
gib mir mehr fleisch
gib mir ein bisschen emotion zu all dem fleisch
gib mir ein bisschen steak sauce for the soul
nur ein bisschen gefühl

"spürt ihr mich?" säuselt der esoterische gruppenleiter über die sitarmusik, die aus den lautsprechern dröhnt. "spürt ihr das universum?" säuselt er wieder, im rhythmus der bongos und congas und triangelorchester, als ob er ein arbeitsloser freestylerapper wäre, und die gruppe säuselt im chor, "ohmmmmmmmmm." "eure träume sind blau", säuselt der esoterische gruppenleiter. "euer himmel ist blau, euer meer ist blau, eure liebe ist blau. Ihr seid eins im blau mit einem blauen universum." die räucherstäbchen brennen und die sitarmusik dröhnt und der esoterische gruppenleiter säuselt und alles ist in ordnung, bis der kerl, der sich zuhinterst links in die ecke gesetzt hat und sich mit soviel mühe in den lotussitz gewickelt hat, aufsteht, seine uzi packt und den ganzen fortgeschrittenenkurs für angewandte aromatherapie in einen traum aus rot verwandelt. "rot!" hört man ihn noch brüllen, bevor er sich den eigens mitgebrachten 357er colt in den mund schiebt und abdrückt. "meine träume sind rot, du verlogenes stück scheisse!"

gib mir fleisch
gib mir fleischberge mit einschusslöchern und sitarmusik

Du wachst auf, und das radio dröhnt und du warst gestern schon wieder nicht in der aromatherapie, obwohl du dir's doch so fest vorgenommen hast, denn du brauchst diese innere ruhe, das sagt auch dein therapeut immer, ja du brauchst etwas, woran du dich festhalten kannst in diesen verrückten zeiten. Aber jetzt ist es schon kurz vor acht und du hast verschlafen, einfach durchgeschlafen, während das radio dröhnt und jan delay singt "die welt steht still" und du denkst, "danke messias, darauf wäre ich niemals von alleine gekommen" und dann ist es genau acht und in den nachrichten erzählen sie, wie irgendein wildgewordener sozialarbeiter seine aromatherapiegruppe niedergemäht hat, aber du hörst es nicht, du liegst in deinem bett und dein kopf ist schwer und deine augenlider kleben zusammen, als ob du sie wegschneiden müsstest, um jemals wieder durchzublicken

Gib mir mehr fleisch
Gib mir fetzen und streifen und einschusslöcher
Gib mir sitarmusik, wenn es denn wirklich sein muss

Die welt steht still. Das heisst, eigentlich steht nur deine welt still. Denn draussen fällt der schnee und der nebel quetscht sich mit dem fluss durch das tal in richtung see und sogar die junkies rennen rum wie die verrückten, denn um diese jahreszeit sehen sie besonders armselig aus, das macht sich gut beim betteln, das ist ein anschauliches verkaufsargument, sagt bruno, und der muss es wissen. Immerhin hat bruno auch schon ein paar marketingkurse an der uni besucht, mit dem geld, das er sich am hauptbahnhof zusammenkratzt, man muss ja an sich arbeiten, sagt bruno. Das hat ihm einmal ein uniprofessor gesagt, als er für den nächsten schuss sammelte, und bruno hat es sich zu herzen genommen. Man muss doch an sich arbeiten, gerade wenn jeder tag dein letzter sein könnte, sagt bruno, und der muss es wissen. Immerhin munkeln sie auf der gasse schon seit zehn jahren, er hätte aids, das kann doch nicht gutgehen, wenn man soviele schwänze in den mund genommen hat, aber bruno ist immer noch da, also hat er vielleicht doch nochmal glück gehabt, und die einzige person, die es wirklich wissen müsste, ist bruno selber, aber der hat bei soviel gemunkel einfach zuviel schiss, um doch noch einen test zu machen.

Gib mir krankheit
Gib mir freiheit
Gib mir schwälle von fortgeschrittenen verwesungsgasen und fruchtfliegen die sich aus rostigen kühlhäusern ergiessen

Die welt steht still, und die sozialarbeiter gehen mit. Man muss ja am puls der zeit bleiben, sagen sie sich. Man muss sich weiterentwickeln, genau wie sich die welt dauernd weiterentwickelt. Und dann treffen sie sich, in halbverdunkelten kongresszentren, zünden sich räucherstäbchen an und meditieren in halbkreisen über new public management, nur in halbkreisen, bloss keine ganzen kreise, man muss doch offen bleiben, man muss doch mit der zeit gehen, wie die aussenpolitik und die verwesung und die geschlechtskrankeiten und die kanalisation.

Gib mir schweinsnieren in den wasserfiltern
gib mir verformte hühnerbeine in den kloschüsseln und rippchenreihen in den ausgüssen
Gib mir mehr fleisch
Gib mir schlachthäuser mit kettenfliessbändern und kettensägen und blutwannen
Gib mir tierfabriken mit gitterstäben und zapfhahnen und hormonfuttertrogen
Gib mir food production centers

Und du erwachst am morgen um acht wie jeden morgen, das radio dröhnt und du bist zu spät und die augenlider kleben aneinander und dein kopf schmerzt und dein bauch ist leer und dein rücken ist genau so verkrampft wie deine einstellung. Sei doch mal ein bisschen locker! Sei doch mal ein bisschen frecher! Schiess doch mal die ganze meute über den haufen, nur um klarzustellen, dass man das mit dir nicht machen kann. Mit jedem anderen vielleicht, aber mit dir nicht! Da kann doch kein mensch mehr vernünftig bleiben, bei so viel fleisch und so viel verwesung und so viel blut! Das hat auch dein therapeut gesagt, der hat schliesslich immer verständnis für dich, sogar wenn du richtig durchknallst, ja, er würde dich sicher sogar in der anstalt besuchen kommen, wenn sie dich auf unbeschränkte zeit verwahren, nachdem du und dein sturmgewehr mal so richtig aufgeräumt habt an der bahnhofstrasse, aber das allein wäre es dann doch nicht wert, und ohne deinen pc würdest du es im knast dann wahrscheinlich doch nicht aushalten.

Und so reisst du dich hoch, fetzst deine augen auseinander, schmeisst dein verrottendes fleisch unter die dusche, deine abgekauten fingernägel, deine verfaulenden schleimhäute und deine schlaffen muskelfasern, peitschst dich mit siedendem wasser zur besinnung und trottest ab zur fleischfabrik, wo du eine weitere halbe stunde damit verlierst, dass dir dein chef erklärt, dass das nicht geht, wenn du immer eine halbe stunde zu spät kommst und dass es genügend andere potentielle sozialhilfeempfänger gibt, die scharf auf so einen job sind.

Gib mir frisches fleisch
Gib mir die noch in der januarluft dampfenden eier meines chefs
Gib mir keisende geier am mittagshimmel und blauhelme auf der suche nach massengräbern

diesen winter sterben sie wieder wie die fliegen: die UNO-resolutionen und die börsentitel und die arbeitsplätze und die beziehungen und die junkies und sogar die sozialarbeiter. so ist das halt mit der wirtschaft, wenn's ihr schlecht geht, geht's uns allen schlecht, was nicht heissen soll, dass es uns gut geht, wenn's ihr gut geht, genauso wie es nicht das gleiche ist im frühling aus seinen löchern zu kriechen weil es wieder wärmer wird oder weil man seine miete nicht mehr bezahlen kann. und wenn dann dieser verdammte frühling endlich kommt und die unzufriedenheit bis nach ganz unten durchgesickert ist und sogar die sommerhits nicht mehr ausreichen, die leute in die konsumhymne einzustimmen, wenn sie sich dann endlich zusammenrotten und ihre transparente flattern lassen und sogar die sozialarbeiter ein bisschen mailuft schnuppern und mit dem schwarzen block durch die gassen von evian ziehen, wenn sich dann endlich wieder mal was bewegt, weil es jetzt endlich eine bewegung ist und man endlich wieder weiss, wer die bösen sind, obwohl ronald mc donald george mc bush wieder als massenmörder nummer eins abgelöst hat und es eigentlich sowieso egal ist, solange sich endlich mal wieder wer bewegt und sogar die privatwirtschaft wieder einmal durchblickt, wohin der wind weht und corris die ganzen hippies von der strasse wegrekrutiert und mit parolen ausstaffiert und dann zurück auf die strasse setzt und euch vor die fresse, dann, ja dann, erinnert ihr euch vielleicht auch mal wieder, dass es ein vegetarier war, der euch einredete, dass arbeit frei macht.

die welt steht still
und das fleisch verrottet in den dunklen hintergassen und wartet auf den frühling

aber inzwischen hast du's geschnallt. eines abends vor dem bildschirm, zwischen leeren pizzakartons und gefüllten aschenbechern als du gerade dabei warst, mit deinem treuen zweihänderschwert den kopf eines minotauren von seinem angeborenen hals zu trennen, während du mit der freien hand den gerade mal fünfzehnten joint des tages drehtest, hast du's plötzlich wieder völlig klar gesehen, dass das so einfach nicht weitergehen kann. Und seither bist du plötzlich brav geworden. seither kommst du jeden tag pünktlich zur arbeit, beantwortest das telephon wieder mit deinem namen und nicht mehr mit "zentrale für islamische bildung, abteilung sprengstoff, selbstgebrauch oder fremdnutzung?", ja du hast deinem chef sogar schon zweimal kaffee gemacht, ohne vorher salz reinzuschütten. und dann stürmen sie plötzlich zu dritt zu dir ins büro und nehmen dich in die mitte und fragen dich, ob du dir schon mal überlegt hast, in eine therapie zu gehen.

gib mir die gedünsteten hirne aller psychologiestudenten dieser welt
gib mir nachschlag, weil ich davon nicht satt werde

aber vielleicht hättest du dir das alles ein bisschen früher überlegen sollen. vielleicht hättest du es wissen müssen. das kann doch nicht gutgehen, flexibler arbeitsmarkt hin oder her. es gibt gewisse dinge, die verlernt man nicht mehr. so wie radfahren. frag charlie. frag rummy. frag haarmann, der redet so gern. es gibt gewisse dinge, die kriegst du mit keiner umschulung mehr weg.

die welt steht still und du kannst nicht mehr zurück, denn du brauchst diesen jo, auch wenn deine ex-frau inzwischen dreimal mehr verdient als du und sowieso keine alimente mehr will, nicht von dir jedenfalls. von irgendwas musst du ja leben. und so gehst du brav zu all den weiterbildungsseminaren und befindlichkeitsrunden und gendermainstreamingsitins und während gerade irgendein zweitgenerationstürke das zweipolmodell zum umgang mit aggressionen bei männlichen jugendlichen erläutert, träumst du von bolzenschüssen und blutwannen und den längst verblassten zeiten, als noch jeder mann ein fleischermeister war.

gib mir rohheit
gib mir fleischheit
gib mir sippen von neanderthalern, die ihre ungeputzten zähne in die frisch gerissenen schenkel eines neanderthalermädchens schlagen

und wenn sie dich fragen, bist du fügsam und lügst ihnen vor, du hättest jetzt eine neue therapie angefangen, auch wenn du immer noch einmal die woche die genau gleiche pfeife triffst wie schon seit damals, als sie dich bei der fleischverarbeitungszentrale hinterbüpplingen wegrationalisierten, die gleiche pfeife also, welche dir damals geraten hat, du sollst es doch einmal mit einem sozialen beruf versuchen, du seist doch so ein sozialer mensch, die gleiche pfeife, welche dich und deinen besten freund, deinen mitmetzger seit azubitagen, zusammen zur aromatherapie schickte.

gib mir sitarmusik auf dem highway to hell

die welt steht still und du gehst mit, aber daran kannst du dich gewöhnen. daran musst du dich gewöhnen, denn du hast keine wahl mehr. und nur manchmal, wenn du nachts vor deinem pc sitzst, den joint in der hand, den film vor augen und den kopf woanders und dir wieder einmal klar wird, dass es nie mehr besser wird, weil nie etwas wirklich besser wird, weinst du dich in den schlaf in deinem versifften bürosessel und wünschst dir insgeheim, du hättest auf deinen therapeuten gehört und niemals eine aromatherapie ausgelassen.




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