Die Natter

von Claudia Laube

Die Natter - oder die Dummheit von LSD-Konsumenten Die feingliedrige grauschattierte Natter, schleichend auf dem braunen Holzboden, aus dem Äste herauszubrechen schienen, und Tom auf dem schwarzen Sofa liegend, erstarrt und gefangen in unerklärlichen Ängsten, verharrend in einem stillen Duell. Wie zwei Cowboys kurz vor dem Zücken des Colts. Minuten verstrichen, nach Stunden fühlte es sich an. Was würde er tun, wenn sie zubiss? Gab es ein Gegenmittel? Wie war das nochmals mit dem Raussaugen des Giftes? Wie schnell wirkte solch Gift? Gab es überhaupt ein Entkommen?

Bilder seines vergangenen Lebens - manche klar, manche verzittert und verschwommen - tauchten auf und ertranken in einem grossen, ruhigen, dunkelblauen, stillen Ozean. Tom wollte sie halten, doch die Bilder fanden unaufhörlich den Tod. Keines erschien ein zweites Mal. Als ob der Ozean seine Erinnerungen auffrass.

Tom lief aus, sein Schweiss tropfte auf den Holzboden, Tränen vermischten sich darunter, die Tode seiner Bilder verursachten ihm seine eigenen kleinen Tode. Sein Blick folgte kurze Zeit dem Zielort seiner Ausscheidungen, der Holzboden schien die Feuchte nicht zu ertragen. Aufgeweicht und von immer mehr Wasser beschädigt, entstanden immer grösser werdende Risse im Boden. Die Natter bewegte sich leise vorwärts, Tom konnte minimale Bewegung ausmachen, er begann zu rechnen: 1 Meter, 1 Sekunde? 1 Zentimeter, 1 Hundertstel? Oder 1 Meter, 30 Sekunden? 44 Sekunden? 579111 Sekunden, 21 Kilometer? 5 Minuten? 35 Hundertstel in einem Millimeter? Oder doch eine Stunde?

Würde sie das Loch, dass sich zwischen Sofa und Boden aufgetan hatte - der Boden dem Salzwasser der Tränen nicht gewachsen - daran hindern, ihn zu beissen? Er begann zu heulen, rotzen, schreien, wimmern, schlagen, streicheln, lachen, schluchzen. Tom fühlte sich hilflos wie eine Erdbeere an ihrem Stiel. Aus unerfindlichen Gründen entschloss er sich trotzdem dazu, von nun an eine solche zu sein. Die Natter startete ihren Angriff und schlich zielsicher zu Tom, der mit beiden Armen seine Beine umschlungen hielt und sich hin und her wiegte. Und in absoluter Sicherheit. "Ich bin unangreifbar. Ich bin eine Erdbeere. Noch nicht reif. Nur als Erdbeere ist man sicher."

Unlogische Denkansätze und nicht der Realität entsprechende Sichtweisen später:

Dunkle Schatten huschten an Lina vorbei, direkt in die Küche. Das Haus lag in finsterner Ruhe, erstaunlich für diese Zeit. Es miaute aus der Küche. Die Türe zur Stube lag ungewöhnlich weit offen. Ein Blick ins Innere liess nur schemenhaft die schwarze Couch, den Glastisch und den Fernseher erkennen. Etwas komisch Dunkles lag zwischen der Couch und dem Tisch, das Lina keine Ruhe liess. Sie konnte nicht erkennen was es war, doch es hinderte sie daran, hinein zu gehen und das Licht anzumachen. Der Schalter befand sich nicht wie üblich rechts beim Eingang, sondern musste nach einer Odyssee durch am Boden liegende Video-Games und den im Wege stehenden Ecken des Glastisches beim Radiator gedrückt werden. Doch genau dazwischen lag nun dieses dunkle Anonymus. Was, wenn es ein Einbrecher war, der nur darauf wartete, dass jemand das Licht anmachte, dann hervorspringen und ihr Bein packen würde? Oder irgendein Monster, dass sich aus Angelas herumliegenden Stofffetzen gebildet hatte und nun ganz schleimig am Boden lag? Oder sonst ein hässlich Vieh, dass sich aus Küchenresten zusammensetzte? Ob ihrer eigenen Gedanken musste Lina so lachen, dass sie sich entschloss, das Licht anzumachen. So schlimm konnte es nicht sein.

Als plötzlich dieses grelle Licht einsetzte, wusste Tom, dass er reif war. Seine Augenlider klebten fest, was ihn zur Annahme verleitete, er sei nun tatsächlich eine Erdbeere. Er schlug um sich wie ein kleines Baby.

Lina blieb vor Schreck der spitze Schrei im Halse stecken. Was sich da vor ihren Augen abspielte, hätte sie sich nie vorzustellen getraut. Es war zu realistisch und doch zu abgefahren, um wahr zu sein. Ein etwa 25jähriger Mann am Boden liegend, zurückversetzt in seine Anfangszeit, spuckend und mit den Händen ringend, wimmernd, mit dem rechten Bein ausscherend, der sich nicht mehr selbst zu helfen wusste. Lina kannte den Mann nicht, der sich da auf ihrem Boden wälzte. Wie konnte der bloss in ihr Haus eindringen?

Scheinbar führte der junge Mann nichts Böses im Schilde, ausser mit sich selbst. Und hatte sich dabei aufs falsche Sofa gelegt. Kann ja mal passieren... Er wirkte unansprechbar und auf welcher Droge er sein könnte, erahnte Lina zwar, doch mehr Sicherheit gab ihr das nicht. Sie stützte Tom und half ihm aufs Sofa. Bei der ersten Berührung durch sie zuckte er zusammen als hätte die Natter zugebissen. Er quietschte. Doch ohne Gegenwehr liess er sich aufs Sofa heben. Er begann in das daraufliegende Tuch Rotz und Wasser zu heulen. Keine einzige Sekunde öffnete er seine Augen. Er schien dabei zu schlafen.

Linas Blick schweifte zu seinen Schuhen, die fein säuberlich neben die Couch gestellt worden waren. Ein kleiner vertrockneter Wurm lag daneben, inmitten eines Häufchens vom Herbst ausgebleichten Blättern. Ihr Blick wanderte hinaus in Richtung Haustüre, wo ebenfalls ein kleines Häufchen Blätter und Äste seinen Platz gefunden hatte. Lina begann Tom zu schütteln und haute ihm mit der flachen Hand über den Hinterkopf. Sein Tränenfluss stoppte und er hob sein schweres Haupt in ihre Richtung, doch seine Augen verkrampften sich.

Lina rannte in die Küche und machte Teewasser bereit. Sie selber brauchte einen Kaffee. Er vielleicht doch eher auch? Sie entschloss sich, ihm Kaffee in den Hals zu schütten. Also warf sie in das gekochte Wasser sieben gestrichene Kaffeelöffel Instant-Kaffee. Kein Zucker, keine Milch! Wenn ihn das nicht auf die Beine brachte...

Sie setzte sich neben Tom, hob seinen Kopf auf ihre Beine und versuchte seinen Mund zu öffnen. Anfänglich etwas ungeschickt, fand sie den richtigen Griff nach einigen Sekunden und konnte ihm so ungehindert den Kaffee in den Rachen spülen. Er schluckte und schluckte bis er sich verschluckte. Er riss die Augen weit auf, Röte quillte hervor, Lina wich erschreckt zurück. Er hustete, kotzte, röchelte und bellte. Eine Sekunde hielt er erschreckt inne. Ein plötzlich einfahrender Gedanke animierte ihn dazu, auf den Glastisch zu springen und wie eine Frau, die eine Maus entdeckt, zu schreien und quietschen. Der Glastisch zerbarst in tausend Scherben. Lina schrie nun mit. Tom lag da, blutend in den Scherben, mit aufgerissenen geröteten Augen, während seine Tränen seine Schreie erstickten.

"Du Idiot!" stiess Lina keuchend hervor. "Spinnt es dir eigentlich irgendwo? Kommst hierher, legst dich auf fremdes Gebiet, zerstörst unsere Einrichtung und wahrscheinlich auch gerade unsere guten Beziehungen zu den Nachbarn!" Sie versuchte, ihn aus dem Scherbenhaufen herauszuklauben. Bei jeder Bewegung zuckte Tom mit schmerzverzerrter Gesichtsanimation zurück, damit Lina mit ihren Aufräumarbeiten wieder von vorne beginnen konnte. Irgendeinmal war ihr sein wehleidiges Getue zu viel und mit all der Kraft, die sie noch in sich hatte, zog sie ihn aus seiner unbequemen Lage, unter tobendem Geheul, und warf ihn gekonnt auf das Sofa. Sie nahm jetzt keine Rücksicht mehr. Diese hatte dieser hirnverbrannte Drogenspasti doch auch nicht genommen.

Laut schnaufend und vor Schmerzen windend lag er breitgetreten auf dem schwarzen 5er Sofa. Lina überlegte ihre nächsten Schritte. Polizei? Feuerwehr? Mitbewohner? Drogenspezialist? Wessen Fall war das? Wer war für solche Dinge zuständig? Sie hatte sich auf einen angenehmen Abend in Einsamkeit vorbereitet, wäre natürlich erfreut über Besuch gewesen, aber nicht unbedingt und ganz sicher nicht so.

"Wo ist die Schlange?" hechelte hinter ihrem linken Ohr der aufgeregt und jetzt aufgerichtet da hockende Fremde. Seine schrecklich geröteten, aufgerissenen Augen starrten sie an, starrten im Raume herum und schweiften zurück zu ihr. "Hier ist eine Schlange..." Seine hysterischen Züge hatte er nun abgelegt, ganz ruhig und leise entfloh ihm diese Feststellung. "Eine Schlange?" Lina übernahm die hysterischen Züge. "Du bist wohl der riesengrösste Schwachkopf, der mir jemals unter die Augen gekommen ist! Und das in meinem Haus!" Sie schüttelte aufgebracht ihre braunen Locken nach hinten, wobei ihr Blick auf dem Blätterhaufen neben dem Sofa haften blieb. Dort lag immer noch dieser vertrocknete Wurm.

"Eine Natter war es, da bin ich mir sicher! Sie hat mich angegriffen!" Tom liefen Tränen über die Wangen. "Um dich ist es ja ganz schlimm bestellt.." murmelte Lina verständnislos. "..und wo hat sie dich gebissen, du Hosenscheisser?" Tom sah an sich hinunter, sah die vielen offenen Wunden von den Scherben und begann am ganzen Leib zu zittern. "Siehst du..." wimmerte er, "überall hat sie zugebissen, es tut so weh, hol Hilfe! Entgiften, entgiften..."




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