Mittwoch

von Franziska Müller

Es ist Winter. Und kalt. Aber nein, nein, nicht, dass sie sich da jetzt was Falsches darunter vorstellen, kein Schnee oder so was, nichts liebliches, beißende Kälte soll es sein und Nebel. Und Tröpfchen müssen her, Tröpfchen, die durch die Luft fliegen - zu schwach zum fallen, zu feig um oben zu bleiben – sie fliegen, und steht man mit dem Gesicht gegen Wind dann klatschen sie auf die Wange, dass es schmerzt, wie ein kleiner eisiger Schuss. Man kann sich nur rächen, wenn sich eines in den Wimpern verfängt und man es auf der geröteten Wange mit einem Liedschlag erschlägt.

Die Tröpfchen kommen vom Meer her, sie müssen sich also auch ein Meer vorstellen, aber bitte kein Sandstrand, ich wehre mich gegen jede Romantik, auch keine Klippen, an denen sich die Wellen berstend brechen, auch das nicht. Nein, ein Hafen soll da sein, oder noch besser, der Hafen liegt gegen rechts erst am Horizont, ein großer Industriehafen, durch die Tröpfchenwand heben sich hohe Schornsteine ab und braungrauer Rauch vermischt sich darüber im Nebel vermilcht geht darin auf. Laute dringen dumpf hinüber, es lebt. Maschinen leben. Aber hier – ja so ist das besser – hier ist die Pier. Die Pier vor einer Stadt, in England wohl, Südengland, wenn sie sich darunter etwas vorstellen können. Moment, lassen sie es mich erklären. Wir nehmen Klippen weit hinten, eher Felsabbrüche, durch die Erosion verweichlicht. An den Hang schmiegen sich steile Sträßchen, daran stehen Häuser, schön - so durch den Dunst - farbige schlanke hohe mit weißem Stuck und spitzen Schnörkeldächern. An manchen hängt ein Schild, auf dem steht Bed&Breakfast. Unten, wo sich das Meer zurückgezogen hat und die Stadt flach ausläuft bitte moderne Bauten, aber nichts ästhetisch ansprechendes, God behave, wir sind in England. Das ist Industrie. Klötze. Klötze grau und braun aus Beton sollen in den Himmel ragen, mit vielen Fenstern und dazwischen Balkonen und an manchen Orten brennt Licht, oder sagen wir, an vielen Orten, und dabei ist vielleicht erst vier Uhr nachmittags, aber da ist Licht, auch wenn man denkt, aber die müssen doch bei der Arbeit sein, oder in der Schule, nein da brennt Licht, und die Vorstellung drängt sich auf, dass die da leben. Dass da Menschen drin leben. Ich meine verstehen sie mich richtig, ich meine, die leben da, also bewusst leben, ich meine damit nicht nur wohnen oder hausen oder vegetieren, nein wirklich leben. Sie müssen sich das so fest vorstellen, dass sie dieses dumpfe mulmige Gefühl im Bauch verspüren, wenn sie die Menschen dort in ihren Wohnzimmern in dem grauen Klotz in ihrem Kopf sitzen sehen, sicher labert der Fernseher vor sich hin, und ein dreckiges, sabberndes, hässliches Kind krabbelt über den abgetretenen Teppich und kaut auf einem zähen Stück Fleisch, das es unter dem Tisch gefunden hat, wo es sein pubertäres magersüchtiges Geschwister für den Hund deponiert hat. Und das magersüchtige pubertäre Geschwister sitzt in einem braunen abgewetzten Sessel und liest in einer alten Zeitschrift Schminktipps und die Mutter bügelt rauchend die Wäsche und schnautzt das pubertäre Ding an, und der Vater ruht seine Flasche auf dem nackten Bauch aus und schweigt. Also wenn sie das oder so was ähnliches sich vorstellen können und das Gefühl, das von ihnen ausgeht aufgefangen haben, dann können sie über einen großen grauen Parkplatz zur Pier kommen, aber passen sie auf bei der Strasse, sie ist groß geschwungen und man sieht kaum die Kurven und die Tröpfchen fressen das dumpfe Brummen der Motoren.

Zuvorderst am Wasser ist ein Fußweg, etwas tiefer als die Strasse, geteert natürlich, abgesperrt, das Ufer eine Mauer, dicht vermacht und die Wellen bersten dagegen ohne wirkliche Motivation, ohne Mut des Menschen Werk zu brechen. Irgendjemand, wohl ein Bürgermeister im Wahlkampf, wollte der Pier einmal einen lieblichen Aspekt geben, und vielleicht hätte sie dies auch, würde jemals die Sonne scheinen. Weiße gusseiserne Bänkchen stehen gedeckt in Nischen und in regelmäßigen Abständen steigen hohe Laternen aus dem Geländer von einer schweren Glocke beschattet. Aber im Grau des Tages geht ihr Licht unter und auch die weiße Farbe wird blass und blättert.

Und wenn sie sich jetzt dem Meer zuwenden, sie müssen die Augen fest zusammenkneifen, damit ihnen die Tröpfchen nicht in die Augen fliegen und sich mit den Tränen vermischen, dann erkennen sie einen massiven weißen Steg die Wogen teilen und jetzt müssen sie sich vorstellen, die Dämmerung ist plötzlich eingefallen, das muss jetzt ganz schnell gehen, so dass sie keine Zeit haben, sich umzusehen, das würde sonst die Stimmung zerstören, die Stadt wäre dann nicht mehr grau, sondern von farbigen Lichterketten und blinkenden SanktNikolausen entstellt – es ist also plötzlich finster geworden, und während in ihrem Rücken also noch die graue Stadt in ihrer tristen Sinnlosigkeit fristet, geht über dem Steg der Mond auf. Der dicke gelbe Mond wie ein fettiges Pommeschips hängt er über dem dunkelblauen Meer auf dem weiße Schaumkronen tanzen. Und wenn Sie sich das alles jetzt genau richtig vorgestellt haben, und die richtigen Gefühle richtig gefühlt, dann werden sie verstehen, warum er es war, der schönste Tag, der schönste Tag in meinem Leben. War ein Mittwoch.




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