Hinter den Schienen endlose Weite

von Doris Wirth

Das Morgenlicht war hell und schmerzte leicht in Maras Augen, obwohl der Himmel bedeckt und wattig war. Die Leute, die Mara auf der Brücke entgegen kamen, stiessen Atemwolken vor sich her.
Mara kostete kurz die Sicht über die Gleise aus, die von Gräsern überwuchert ins Nirgendwo zu führen schienen, und heftete dann ihre Aufmerksamkeit auf die Plattform. In einem 90° Winkel ragte sie in die Luft hinaus und führte auf die Bahnsteige hinunter. Langsam bewegte sich ein beiger Punkt über die scheinbar schwebende Plattform und verschwand für einen kurzen Moment hinter dem Imbissstand. Lene. Mara beschleunigte ihr Schrittempo. Die beige Figur hatte ihre Tasche abgestellt und zog die Ärmel über ihre Hände. Zwischen ihren hochgezogenen Schultern legte sie ihren Kopf leicht schräg, hob den Blick und begann, die Entgegenkommenden flüchtig und beinah regungslos abzutasten. Als sie Mara sah, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und sie legte den Kopf noch schräger. “Hey!” sagte Mara und schloss ihre Arme fest um Lenes schmalen Rücken. Lene erwiderte ihren Druck sanft und Mara traute sich nicht, noch stärker zu drücken. Die Tage waren nicht so eisig kalt wie die vergangenen und Mara, die Lene gerne die schneidende Kälte gezeigt hätte, rechtfertigte sich für die gestiegenen Temperaturen.
“Wau”, sagte Lene und blickte sich um. Dabei lehnte sie ihren Oberkörper leicht zurück und ihr Bauch wölbte sich nach vorne. “Ist ja riesig!” Mara lächelte und atmete dabei durch die Nase aus. Sie hatte gehofft, dass ihr Zimmer Lene gefallen würde. Mara hätte sich am liebsten bewegungslos an die Wand gestellt und Lene dabei zugeguckt, wie sie langsam und eindringlich ihr Zimmer mustern und Stück für Stück mit ihrem Blick erforschen würde.
Lene drehte sich zu Mara um und meinte: “Ist es nicht komisch? Es ist fast ein Jahr her, seit wir uns zuletzt gesehen haben, aber es fühlt sich an, als wär es gestern gewesen.”

Die Strasse war schnurgerade. Links und rechts von ihr lag zugeschneites Feld, das durch die reflektierende Sonne grell schimmerte und einen leichten Schmerz auslöste auf der Netzhaut. Am Ende der Strasse rote Backsteinbauten, klein wie Legosteine. “Wo sind wir hier?” fragte Lene, ein Niemandsland, mitten in der Stadt. Ihr frisch gewaschenes Haar war noch feucht und kringelte sich über dem linken Ohr. Die Sonne schien ihr ins Gesicht und brachte die Türkisfarbe ihrer Augen zum leuchten. “Ich weiss es nicht”, sagte Mara und hüpfte neben Lene her.
Die schnurgerade Strasse mündete in eine leicht befahrene Verkehrsstrasse und die Ampel sprang auf Rot. Lene rannte herüber und drehte sich zu Mara um. Mara hatte den Moment verpasst. Sie blieb stehen, obwohl sie wusste, wie ewig es hier dauerte, bis die Ampel für die Autos auf Grün umsprang. Lene zog ihre Schultern leicht hoch, um sich warm zu halten und lächelte Mara über die Strasse hinweg zu.
Sie waren ganz oben. Vor ihnen floss der Hügel anfangs steil und allmählich flacher auf ein paar Häuseransammlungen zu, die nach Vorstadt und Industrie aussahen. Die Schlittelspuren waren durch die Vereisungen kerbig in die weisse Fläche gebrannt. Einige Überreste roter Knallkörper und ein paar Dosen waren Zeugnisse der Sylvesternacht. Wie schön musste es hier oben gewesen sein. Mara atmete tief ein und legte den Kopf in den Nacken. Die Luft schmerzte leicht in der Lunge und Mara hustete. Mara wollte gerne die Luft anhalten. Weiter blauer Himmel und die Stadt, Lene war hier, weisser Schnee überall und sie, Mara und Lene und der Hügel. Mara und Lene jetzt, und alles, was noch kommmen würde – sie wollte “Stopp!” rufen, “Stopp!” wie beim Alphabet bei Stadt Land Fluss. Aber alles würde weiteratmen, das Bild würde nicht erstarren oder verzerrt einrasten wie bei der Pausefunktion eines Videoabspielgeräts. Mara wollte die Augen schliessen, bevor ihre Gedanken sich überschlagen würden - Mara liess ihre Augen den Hügel hinabgleiten. Wie lächerlich winzig ihr Zeitanteil war, ihr Leben, ihr Stück Welt. Bald schon würde sie dreissig sein. Wie schnell alles ging. Dann vierzig und was geschah dann noch. Dann war sie bald tot. Und ihren Kindern würde dasselbe geschehen: eine Kindheit, in der die Welt sich langsam drehte und alles möglich schien, dann das zaghafte Strampeln und sich Zurechtfinden und schliesslich, wenn es langsam richtig schön wurde, dreissig, vierzig, tot. Dabei war das, was sich jetzt so schön anfühlte, wahrscheinlich noch immer die Verpuppung. Und wenn man dann endlich mit den Flügeln schlagen konnte, hörte das Herz schon langsam damit auf.
Mara breitete die Arme aus. Sie hätte sich gerne rückwärts in den Schnee fallen lassen. Lene blinzelte zu ihr hinüber. “Sieht ganz schön tot aus da unten, oder? Wollen wir umkehren?” Mara wäre gerne weiter gelaufen. Den Hügel hinunter und gucken, was kommt. Das dicke Glatteis sah nicht gerade einladend aus. Mara wollte mit Lene zusammen losrennen und sollten sie fallen, würden sie auf dem Hintern die Piste hinuntergleiten und dann mit nasser Hose zurück in die Stadt. Lene hielt sich links und legte eine Hand auf den Holzzaun. Mara setzte in der Mitte des Hügels vorsichtig einen Fuss vor den andern. Am Ende des Hügels spazierte eine Frau mit einem roten Schal und einem Hund. Mara wäre ihr gerne gefolgt.

Lene hob die Augenbrauen und sog die Luft ein. Mara starrte auf die Preise, die in verschnörkelter Schrift gedruckt waren, zog ihre Nase hoch und sagte ungefähr dreimal: “Sonst ist es nicht so teuer. Man kann ganz billig frühstücken hier.” Hinter den grossen Fenstern streckten die Bäume ihre kahlen Äste krumm in die Luft. Sie dachte an den runden Küchentisch ihrer Eltern. “Manchmal”, sagte sie, “bin ich mit dem Rad hin gefahren. Mit so einem ganz warmen Gefühl im Bauch. Und im Eingang roch es noch immer nach Grossvater.” Mara stach den Löffel in den dicken Schaum und fuhr vorsichtig mit den Lippen darüber. “Als wir dann jeweils am Tisch sassen, sagte Mama, es gäbe nichts Neues und so. Papa versuchte lustig zu sein und sagte, sie wären halt langweilig. Manchmal sagten sie auch, es ginge ihnen soweit gut. Einmal fragte ich, ob sie mit zu mir kämen, einen Film sehen, ihr Videogerät war kaputt. Erst willigten sie ein, aber dann meinte Mutter, es wäre schon so spät. So weit bis zu mir. Und morgen wieder aufstehen. Mir war, als sei der ganze Fussboden mit Honig bestrichen. Und würde ich nur eine Sekunde länger dableiben, würde ich nie mehr wegkommen, schon jetzt würde jeder Schritt zäh und klebrig sein.” Lene verzog das Gesicht. “Mein Vater legt mir meistens zum Abschied die Hand auf die Schulter, manchmal auch beide, wenn er seinen Gefühlen Nachdruck verleihen will, und sagt: ‘Toi, toi toi’. Ich komme mir dann immer vor, wie eine Skirennfahrerin in Startposition und zeige kampfbereit ein Lächeln.” Sie lächelte, ihre Schultern wieder leicht noch vorne gezogen und Mara sah den kleinen Schmerz in ihren Mundwinkeln. Mara fixierte Lenes grosse Augen, die helle grüne Farbe, zwei Seen, hatte sie gedacht, als sie sie zum ersten Mal gesehen hatte, und dachte an Lenes Vater. Als er sie am ersten Schultag abgeholt hatte und Mara hatte mitfahren dürfen, war er wütend geworden, weil Lene und Mara sich hinten reingesetzt hatten. “Komm bitte nach vorne, Lene.” hatte er gesagt, er sei doch kein Taxifahrer. Hinter Lenes Haar bildeten die Äste ein scharfes, dunkles Liniengewirr vor dem weissen Himmel.
Lene betrachtete Mara lange. Dann legte sie die Hände um ihre dampfende Teetasse und beugte sich darüber. Mara schaute auf den grossen silbernen Ring an Lenes hellen Fingern. Jetzt war Lene wieder da. Mara unterdrückte ein Lächeln. Im Bemängeln von Zuständen hatten sie sich schon immer gut ergänzt.

Lene atmete ruhig und regelmässig. Sie lag ganz am Rand der Matratze, Mara hatte zwei Drittel für sich. Sie lag auf dem Rücken und schaute die speckige Stukkatur an der Decke an, die ungefähr zehnmal übermalt worden war. Ausser Lenes leisen Atemzügen war nichts von ihr zu hören oder zu sehen. Mara war fast allein und Lene löste sich langsam im Dunkel des Zimmers auf.

“Lass uns rennen!” rief Mara und versuchte Lene am Ärmel zu ziehen, aber Lene sagte “Ich mag nicht”. Mara beschleunigte und spürte ihre Absätze hart auf den Pflastersteinen aufprallen. Ohne links und rechts zu schauen rannte sie in das Dunkel der Nacht hinein und fühlte jeden Muskel ihres Körpers. Sie sah die riesigen Weizenfelder, sah die vor Kraft strotzenden Körper der beiden Jungen und hörte noch immer die Musik. “Und, mochtest du den Film?” hatte Lene unmittelbar nachdem sie sich von ihren roten Klappstühlen erhoben hatten gefragt und dabei das Gesetz missachtet, dass Mara immer mindestens die ersten zehn Minuten nach Filmende schweigend verbrachte. Lenes Tonfall machte ihre eigene Meinung deutlich und Mara hatte keine Lust, den Film zu verteidigen. Konnte Lene das nicht verstehen? Konnte sie es nicht spüren? Kannte sie es nicht? Mara sah in den Augenwinkeln einen Schatten an sich vorbeiflitzen und hielt keuchend an der Ampel inne. Auf ihren Wangen glühte die Kälte.
Mara hustete und versuchte, mit Wasser die Schärfe aus ihrem Gaumen zu spülen. Lene machte das scharfe Essen nichts aus. Sie sass zusammengesunken in ihrem Stuhl und starrte auf den Leerraum vor der Tischkante. Mara war noch bei den Kornfeldern und jugendlichen Abenteuerern. Sie setzte sich aufrecht hin und liess ihren Blick zwischen den Lichtern der nächtlichen Stadt und Lene hin und her gleiten. Lene blickte manchmal kurz auf, sah sie wie durch eine dicke Scheibe hindurch an und liess ihren Blick wieder sinken. Lenes Seenaugen schienen zugefroren, Glasmurmeln jetzt. Mara wollte die Hand ausstrecken und Lene berühren, sie schütteln. Sie wollte sie bei der Hand nehmen und ihr die Schönheit der skandinavischen Felder zeigen, egal, wie unempfänglich Lene für solche Romantizismen war. Sie wollte mit ihr zusammen über die Kornfelder rennen. Mara und Lene. Aber Lene war weit weg. Eine unsichtbare Schicht umhüllte sie. Mara blickte auf ihren Teller, das Essen setzte sich schwer ab in ihrem Magen und begann zu klumpen. Sie trank einen Schluck Tee und schloss die Augen.

Lene stand bewegungslos an der grossen Fensterfront und berührte mit dem Gesicht den transparenten Stoff der Vorhänge. Mit ihrer beigen Hose und dem weissen Oberteil hob sie sich kaum von den gedämpften Tönen des Zimmers und dem blassen Himmel hinter dem Fenster ab. Mara dachte an das Bild: ein weisses Auto, kaum erkennbar, in einer mit wenigen Strichen angedeuteten Schneelandschaft. Sie dachte an Lenes Strich, suchend und zaghaft, dennoch am Ende klar und scharf. Lene hielt die Arme verschränkt. Ihr Rücken schien den Kopf leicht zu schützen, ihre Hüfte war schmal und die beige Hose floss weich an ihr herunter. Sie verlor sich fast im Halbdunkel des Zimmers, schemenhaft und schwebend, wie eine ihrer eigenen Figuren.

Sie lagen nebeneinander auf der grossen Matratze und der Labtop zeigte Griechenland. Oder besser: Lene und Tim mit einer sich leicht verändernden Hintergrundkulisse. Lene trug Sommerkleider, Röcke und Tücher, Mara hatte sie noch nie so zigeunerhaft gesehen. Auf einem Bild stand sie mit einem weiten Rock im Kornfeld und lächelte Tim zu. Mara schluckte und versuchte, sich auf die Bilder zu konzentrieren. Tim sah mit seiner leicht gebräunten Haut, dem dunklen, glänzenden Haar und seinen weissen T-Shirts genauso makellos und rein aus wie Lene. Lene wirkte jung, obwohl sie älter war als er, Mara kannte sie nicht so mädchenhaft, weich und verspielt. Die Bilder, wo beide so strahlend schön und rein aussahen, als wären sie für eine Versicherungswerbung abgelichtet worden, schienen Lene nicht zu interessieren. Sie hob Bilder hervor, wo Tim und sie am Essen waren an einem Campingtisch und man ausser ihren Haarschöpfen kaum etwas sah.
Lene bohrte ihre Augen in Maras und wartete. Sie sah geduldig aus, aber ihre Augen blickten hartnäckiger als sonst und Mara senkte den Blick auf das weisse Laken der Matratze. Sie hob die Schultern und meinte: “Nein – du wirst das ja schon merken, oder? Wenn es für dich gut so ist – das wird sich dann ja vielleicht auch wieder ändern? Nur, dass dich nichts anderes mehr interessiert - Ich meine, du allein, gibt es das noch? Oder bist du jetzt nur noch so ein Teil von etwas?” Lene seufzte und setzte zu einer Verteidigung an. Mara wusste nicht, was sie davon halten sollte. Womöglich gefiel Lene ja dieses platonische Gleichnis mit den zwei Hälften. Womöglich hatte Lene, so kritisch, ironisch und bissig sie auch gewirkt hatte, schon immer so eine Insel als fernes Ziel gehabt. Und sie, Mara, hatte es nicht bemerkt. Und auf dieser Insel hatte sie ihre Waffen abgelegt. Wie schön sie sein musste, ohne Angst, offen, nackt unter seinen Händen. Mara fühlte einen leichten Druck im Hals. Prinzessin Lene auf ihrer Tim-Burg. Mara dachte an ihre eigene, verlassene Burg. Hielt sie sich nicht auch immer noch oft da auf? Schlich barfuss in den leeren Räumen herum, hob die verstaubten Gegenstände hoch und fragte sich, warum alle gegangen waren? Strich sie nicht fast täglich über die hinterbliebenen Möbel und versuchte zu verstehen, was passiert war?
Mara lächelte Lene an. “Ihr seht sehr glücklich aus auf den Bildern.” Lene rollte sich ein und drückte ihre Wange in das Kissen.

Mara lehnte den Kopf an die Scheibe. Auf der lila Tapete der S-Bahn befanden sich Miniaturen der Sehenswürdigkeiten der Stadt zu einem regelmässigen Muster angeordnet.
Ihr gegenüber sassen eine dicke, alte Russin und ihre Tochter. Die Russin trug dickes Makeup und hatte ihren massigen Körper in eine modische Hose und spitze Lederstiefel gequetscht. Gleichgültig hielt die Tochter ihr eine Baguette hin und schaute in die andere Richtung. Die Mutter hörte nicht auf, in eifrig vorgelehnter Haltung über einen kleinen Mangel an ihrer Ledertasche zu quatschen.
“Jetzt sind es ja nur noch zwei Monate”, hatte Lene zum Abschied gesagt. Sie hatten eilig den Drogeriemarkt durchquert, um Ohropax für Lene zu finden. Lene hatte Schwierigkeiten gehabt, sich zwischen den farbigen billigeren und den neutralen teureren zu entscheiden. Mara lächelte.
Die Tochter wendete ihrer Mutter hin und wieder kurz das Gesicht zu und deutete mit glasigem Blick ein Nicken an. Den Oberkörper von der Mutter weggelehnt, schickte sie ihre Augen hinaus auf die vor dem Fenster hinüberziehende Landschaft. Mara folgte ihrem Blick. Zwischen den Schienen wuchsen beige, lange Gräser hervor, die der Wind umgeknickt hatte. Die rotbraunen Backsteinbauten und verlassenen Fabriken standen wie zufällig ausgeschüttet in der Landschaft und warteten. Über dem alten, schönen Bahnhofsturm, der Mara wie die osteuropäische Version eines mediterranen Leuchtturms vorkam, zogen die grauen Wolken vorüber. Jenseits des braunen Turmes verloren sich die Schienen in der grauen Weite.




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