Neuschnee

von Doris Wirth

der schnee dämpfte und verschluckte ihre schritte, so wie er heute morgen ihre tränen geschluckt hatte. es fühlte sich leicht an, im schnee zu gehen und auch die nacht verlor von ihrer schwere, schwebend leicht in weisse farbe getaucht. alle geräusche wurden vom schnee absorbiert und weich gemacht. weisse wattenwelt, dachte sie und lief schlangenlinien in den frischgefallenen schnee. während sie den schlüssel ins schloss steckte stiegen die bilder von der frühe in ihr auf. sie war froh gewesen am morgen, dass er die augen nicht geöffnet und ihr sein morgengesicht, sein verquollenes, traumverloren leichtes nicht gezeigt hatte. sein morgengesicht, das sie so liebte - liebte, liebte? jedenfalls war es immer so gewesen, als ob jemand mit nassem finger über den rand ihres innern kreiste, bis ein schaurig schöner ton anschwoll und sie erstaunt feststellte, es gibt sie noch, die musik. so war es immer gewesen, wenn er sie anblickte, mit seinem morgengesicht. sie war froh, dass sie leise ihre sachen hatte packen, ein letztes mal die lindengrüne hauswand betrachten, mit dem blick über seine unschuldig zerzausten locken streichen, die tränen sofort hinunterschlucken und gehen können. das dachte sie, als sie den schnee von den schuhen klopfte und schnell die treppe hinauf ins zimmer sprang. sie holte sogleich die schere hervor, stellte sich vor den spiegel und sog das geräusch der klingen in sich auf, die die erste haarsträhne enzweiten und zu boden fallen liessen.
sie hatte sich gefreut auf den herbst, auf die winde und tänze. dann war der herbst draussen vor dem fenster passiert, aber nicht in ihr drinn. dieser herbst, den sie von einem grossen bett aus gesehen hatte, von einem grossen bett mit blick auf eine lindengrüne hausmauer. wieviele stunden hatten sie sinkend auf diesem bett verbracht? sie auf der seite, er auf dem rücken, löcher in die decke starrend, zwischen ihnen eine seidendünne wand, in ihren herzen eine klammernde hand. am anfang warens viele worte gewesen und ebensoviele tränen. dann, je mehr blätter die bäume verloren, desto stiller wurden auch sie. lagen nur noch auf ihrem schwankenden bett, starrten nach draussen und dachten nach. dann dachten sie gar nichts mehr und lagen nur noch, unter einem nebel begraben, starrend auf ihrem schwankenden bett. sie haben sich ruhiggestreichelt und zum schweigen geküsst und eingeschlafen sind sie immer ganz schnell.
sie sah ihren haaren zu, wie sie federleicht zu boden segelten. vor ihrem fenster fielen weich und leise die flocken.
als sie gestern beinah lautlos ins kissen geschluchzt hatte, ging sein atem schon schwer und regelmässig. sie hatte auf die grüne hauswand, die jetzt in der nacht grau war, gestarrt und ihr war dieses andere gesicht in den sinn gekommen, das sie auch mit herbst verband und mit dem geruch feuchter schafswolle. und wie ihr warm wurde bei diesem gesicht und sie an ein ziehen im bauch dachte und an wuchernde bäume. sie dachte an dieses andere gesicht und dass es eine warme, brennende geschichte hatte. und sie dachte an das gesicht desjenigen, der neben ihr schlief und sie hatte es gern, aber das ziehen fehlte, der klang, die zehrende, spriessende hoffnung. dann war ihr eingefallen, dass bald frühling war.




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